Zeichen und Wunder

Zeichen und Wunder

In den frühen Morgenstunden des 23. April 1563, es war ein Donnerstag, begab sich etwas sehr Sonderbares vor den Mauern der freien Reichsstadt Nürnberg. Ein Mann von etwa 30 Jahren kam mit auf den Rücken gefesselten Händen auf das Lauffer Tor zugeschritten, aus seinem rechten Ohr lief Blut. Als ihn die Leute dort bemerkten – und rasch wurden es immer mehr -, sank er auf seine Knie nieder und hob an zu predigen: Beten sollten sie, und Buße tun! Denn so wie er selbst – für jedermann sichtbar! – vom Satan mit Stricken gebunden worden sei, so würde es auch ihnen nur zu bald ergehen, wenn sie nicht umgehend von ihren Sünden abließen! Noch aber sei es Zeit, noch könnten sie umkehren und sich erretten! Sein Anblick solle ihnen ein Zeichen Gottes sein, wie sie dem Teufel unentrinnbar in die Fänge gerieten. Doch es war noch nicht zu spät!

 

 

Blutverschreibung

Der Nürnberger Rat ließ den Fremden in ein Gasthaus bringen. Man befreite ihn von den Fesseln, die aus drei verschiedenen Schnüren und Bändern zusammengewirkt waren, wusch das Blut von ihm und beauftragte mehrere Wärter mit seiner Betreuung. Am Nachmittag kamen seinem Wunsch gemäß die obersten Prediger der Stadt zusammen mit Abgesandten des Rates zu ihm, und er berichtete: Sein Name sei Hans Vader, und er war ein Kuhhirte aus Mellingen, gelegen unweit von Weimar. Er hatte nie etwas anderes gewünscht als nur diesen Beruf redlich auszuüben, und er war verheiratet. Vor drei Jahren jedoch, es war am Johannistag gewesen, hatte ein Eseltreiber namens Nickel Göttel versucht, ihn zum Dienst für einen Junker anzuwerben. Er hatte kein Interesse an dem Angebot gehabt, worauf der Eseltreiber ihm zwei Stücken Brot vorgehalten habe, ein weißes und ein bläuliches. Hans Vader hatte dabei ein ungutes Gefühl verspürt, aber als Göttel ihm vorhielt, eine solche Gabe Gottes dürfe man nicht missachten, da hatte er es doch gegessen. Damit aber war er von diesem Augenblick an verzaubert gewesen, sodass er nun zwölf Jahre lang beständig vom Teufel mit Stricken gefesselt werden sollte. Wie Göttel später in seinem Verhör bekannt habe, war dem Brot sechserlei Blut beigemengt gewesen, nämlich von Schlange, Kröte, Igel, Fuchs und Wolf – plus dasjenige eines ungetauften Kindes, das Göttel vermutlich eigens zu diesem Zweck ermordet hatte.

Als Hans Vader nach Nürnberg kam, war er bereits eine Berühmtheit. Schon zwei Jahre zuvor erschien, in Erfurt gedruckt, ein Warhafftiger vnd gründtlicher Bericht, was sich zugetragen hat mit einem armen Hirten, im düringerlandt, welcher mit mancherley anfechtung, vnd eusserlichen leiblichen plagen, bis auff diesen tag, vom leydigen Teuffel angefochten wird. Demnach war derjenige, der ihn den Dämonen überantwortet hatte, in Weimar als Zauberer verbrannt worden. Vader selbst litt weiter unter beständiger Unruhe, weshalb er predigend die Lande durchzog und aber doch nirgends Frieden fand. Bei einem Aufenthalt in Zwickau beschrieb er sein Leiden genauer: Er erlitt demnach Anfälle der fallenden Seuche (Epilepsie) gleich, die sich durch Angst und Beklemmung ankündigten, wobei ihm Blut aus Mund und Ohren lief. Dabei erlebte er häufig wunderliche Gesichte, also visionär-halluzinatorische Zustände. Mal erschienen ihm ein Junge oder eine Jungfrau, ein anderes mal erlebte er vor seinem inneren Auge, wie Mütter ihre Kinder auf den Rücken nahmen und in einen siedenden Kessel warfen. Auch Schlachten und Kriege sah er immer wieder, und unterdessen wurden ihm von unsichtbarer Hand die Hände auf den Rücken gefesselt, obwohl doch niemand zugegen war.

Diese wundersamen Fesselungen, augenscheinlich vom Teufel selbst vollzogen, waren das Kernstück der Auftritte Hans Vaders, zusammen mit den furchterregenden Blutungen aus seinen Ohren. Wo immer er auftauchte, wollte man ihn gut christlich versorgen und dauerhaft aufnehmen. Vader aber konnte diese Akte der Nächstenliebe immer nur kurzzeitig annehmen, denn schon musste er in seiner Pein weiter und immer weiter von Ort zu Ort ziehen, als eine beständige lebende Warnung Gottes. Nach Leipzig, Wittenberg und Torgau war er so gekommen, auch nach Meißen, Eisleben und Freiberg, und einmal gar trug ihn ein starker Wind aus dem Mansfelder Land bis nach Halle, wo er mit silbernen Ketten gefesselt zu sich kam. Der Hirte führte Dokumente mit sich, die seine Erzählungen bestätigten.

In Nürnberg war man misstrauischer als an den vielen anderen Orten, an denen Hans Vader begeisterte Anhänger und christliche Fürsorge gefunden hatte. Man isolierte ihn, ließ ihn sogar nicht einmal zum Kirchbesuch und verwehrte ihm zugleich das Weiterziehen, wozu er bald einen immer stärkeren inneren Drang verspürte. Als sich ein Bürger meldete, der angab, sich in gleicher Weise selbst fesseln zu können, legte Vader ein schockierendes Geständnis ab: Auch er habe sich immer nur durch einen Trick alleine gebunden, und das Blut selbst aus einem Zahn gesogen und ins Ohr gegossen. Gelernt habe er dieses Kunststück von einem Kollegen – demselben, der in seinen Erzählungen nun als unheimlicher Zauberer auftreten musste. Die Bußaufrufe hätten einzig dazu gedient, glaubwürdiger zu erscheinen. Auf dieses Bekenntnis hin wurde der religiöse Schausteller von seiner Herberge ins Gefängnis verlegt und bereits am nächsten Tag, dem 9. Mai 1562, mit einer für die Zeitverhältnisse überraschend milden Strafe bedacht. Man ließ ihn eine halbe Stunde am Pranger stehen, während seine Taten vom Rathaus verlesen wurden. Anschließend wurde Hans Vader mit Ruten gestrichen und auf Lebenszeit aus Nürnberg verwiesen.

Am schmerzlichsten dürfte für Hans Vader gewesen sein, dass die Nürnberger seine Geschichte ausführlich im Druck bekannt machten, womit seine Masche überregional verbrannt war. Die große Zahl von erhaltenen Auflagen und Exemplaren deutet auf erhebliches Interesse hin, das er weit über den Raum seines Auftretens erzeugt hatte. Im fernen Esslingen berichtet der Chronist Dionysius Dreytwein nach einer solchen Flugschrift über Hans Vader, und der Düsseldorfer Arzt Johann Weyer griff in De praestigiis daemonum, seinem epochalen Werk gegen die Hexenprozesse, ausführlich auf ihn als mahnendes Exempel gegen gefährliche Leichtgläubigkeit zurück. Mit diesen publikumswirksamen Enttarnungen endete die erstaunliche Karriere des Hans Vader, eines einfachen Hirten aus Thüringen, den vermutlich in erster Linie die ihm zuteil werdenden milden Gaben zu diesem Schauspiel getrieben hatten.

Aus heutiger Sicht war Hans Vader nicht einfach nur ein ungewöhnlich dreister Trickbetrüger, sondern eine ausgesprochen zeittypische Erscheinung. Zum einen gab es um dieselbe Zeit herum auch andernorts Aufsehen um Verzückungen oder vermeintlich vom Teufel besessene Menschen. Der Zeitgeist sah darin nicht ein individuelles, wenn auch ungewöhnliches Schicksal, sondern eine Botschaft an die Allgemeinheit. Die Titel einiger fast zeitgleicher Flugschriften aus einem geographisch relativ begrenzten Raum geben einen Eindruck von dieser Entwicklung im Protestantismus in den Jahren um 1560:

Aber auch auf anderen Feldern häuften sich die Menetekel. Die Flugschriften der Zeit sind voll von ungewöhnlichen Phänomenen am Himmel, symbolhaft gedeuteten Missgeburten und Sensationen unterschiedlichster Art, denen der Gehalt einer göttlichen Warnung beigemessen wurde. Ähnlich wie heute heißes, nasses, trockenes oder kaltes Sommerwetter und jede Überschwemmung von unseren modernen Endzeitpropheten als Beweis des eigenen Glaubenssystems und letzter Aufruf zur Umkehr gedeutet wird, wurde damals auffällige Erscheinungen als ein Wunderzeichen mit Bedeutung aufgeladen. Nicht zufällig klagte Hans Vader über das skeptische Nürnberg, „das man seine wunderzeychen/ so Gott allen Menschen zum Exempel an jhm fürgestellt het“, nicht gebührend ernst nähme – und ordnete sich damit also sogar selbst als göttliche Botschaft ein – Bußprediger hatten auch damals schon eine wesenseigene Affinität zum Narzissmus.

Zwei Jahre vor dem Auftretens Hans Vaders, im April 1561, hatten eben in Nürnberg ungewöhnliche Erscheinungen am Himmel für Aufregung gesorgt, wovon ein Flugblatt zeugt. Der Schreiber ist dem Zeitgeist entsprechend überzeugt, Gott wolle die sündige Menschheit damit zur buß reitzen und locken, um sie so zu retten. Vergeblich! Denn so sein wir leyder so undanckbar/ das wir solche hohe zeychen und Wunderwerck Gottes verachten. Auf solchem Boden erwuchsen Karrieren wie die des vom Teufel umstrickten Hirten Hans Vader.

Wunderzeichen oder Prodigien waren schon im alten Rom bekannt. Man versteht darunter Kometen, Blut- oder Steinregen, Monstersichtungen und ähnliche Begebenheiten, die den Zorn der Götter anzeigten. Im christlichen Mittelalter spielten solche Mahnungszeichen eine geringere Rolle, um dann seit der Renaissance wieder stärker Beachtung zu finden. Im Protestantismus ist nach dem Tod Luthers und dem Schmalkaldischen Krieg ein steiler Aufschwung dieses Empfindens erkennbar. Neben theologischen Gründen – die Reformatoren selbst begriffen ihr Werk als endzeitlich – dürften Entwicklungen im sich sprunghaft entwickelnden Markt der Druckschriften eine Ursache sein, da Sensationsmeldungen entscheidend zur Ausbildung der ersten Zeitungen beitrugen. Neugier und Angst waren gleichermaßen absatzfördernd.

Im Jahre 1557 erschienen gleich drei voluminöse Sammlungen von Wunderzeichen in Buchform. Deren Herausgeber Conrad Lykostenes, Hiob Fincel und Caspar Goltwurm hatten bedeutungsvolle Ereignisse von der Vorzeit bis in die eigene Gegenwart mit stupendem Fleiß zusammengestellt. Dieses neue Genre und sein explosiver Erfolg zeigen die Hochkonjunktur, die diese Deutungsmuster in den Jahren des Auftretens von Hans Vader & Co fand. War ein Wunderzeichen zunächst ein natürliches Phänomen – oder auch nur ein Gerücht von einem solchen -, das vor dem Hintergrund apokalyptischer Weltsicht mit einer Bedeutung aufgeladen wurde, so boten gerade Erscheinungen von Verzückung und Besessenheit Rollen an, die die frühneuzeitliche Gesellschaft für Figuren bot, die in die Fußstapfen alttestamentarischer Propheten traten.

Hexenprozesse in Thüringen

Hexenprozesse in Thüringen

Mitunter bekommt man bei den Zentralen für politische Bildung für kleines Geld schöne Bücher zu historischen Themen. Zwar ist die Zeitgeschichte stärker repräsentiert als andere Epochen, stöbern lohnt sich aber allemal. Obwohl Sündenbocksuche und rechtskonforme innergesellschaftliche Gewalt eigentlich eminent politische Themen von zeitloser Bedeutung sind, sind Hexenprozesse in den Publikationsverzeichnissen allerdings kaum anzutreffen, löbliche Ausnahme: Thüringen.  Ronald Füssel, dessen Dissertation „Die Hexenverfolgungen im Thüringer Raum“ von 2003 die grundlegende Bestandsaufnahme für diesen Teil MItteldeutschlands geleistet hat, hat bereits 2001 eine populäre Einführung „Hexen und Hexenverfolgung in Thüringen“ für die LZT verfasst, von der inzwischen die dritte überarbeitete und erweiterte Auflage erschienen ist. Ausdrücklich nicht für Fachpublikum geschrieben, bietet sie eine gut lesbare und kompakte Einführung für Leser ohne Vorkenntnisse. „Das Interesse an der Thematik ist groß, das Unwissen darüber aber leider auch“, umreißt Füssel seine Zielsetzung, verbreiteten Fehleinschätzungen die Ergebnisse der Fachforschung entgegen zu setzen. Dies ist gut gelungen.

Für Leser mit tiefergehendem Interesse ist zur Neuauflage des Büchleins ein neu angelegter zweiter Band erschienen, der ein Ortsverzeichnis und eine Bibliographie liefert. Damit werden Erkundungen zur Ortsgeschichte, seien diese wissenschaftlich, heimatkundlich oder genealogisch motiviert, deutlich erleichtert. Zwar enthielt Füssels Dissertation naturgemäß dieselben Daten, deren kryptische Aufbereitung in unübersichtlichen Anhängen den Benutzer aber vor enervierende Herausforderungen stellte.  Mit dem Ortsverzeichnis liegt nun ein neues, praxistaugliches Werkzeug vor. Um es mit der Konsequenz in Sachen Benutzerfreundlichkeit aber nicht gleich gar zu sehr auf die Spitze zu treiben, stellt der Autor gleich von vornherein klar: „Dies ist ein Orts- und kein Personenverzeichnis“. Warum eigentlich nicht? Die Ausrede mag naheliegen, das bei nicht wenigen Hexenprozessen die Namen der Betroffenen nicht überliefert sind. Ist dies aber ein Grund auf halbem Wege bei der absolut begrüßenswerten Indexierung stehen zu bleiben? Nicht recht einleuchten will auch, dass ein solcher zweifelsohne ohnehin nur durch Subvention finanzierbarer Ergänzungsband nicht gleich auch unter CC-Lizenz und als PDF zur Verfügung steht – ein suboptimaler Einsatz von Steuergeldern. Immerhin kann aber auch der Nicht-Thüringer beide Büchlein bekommen, was eine sehr erfreuliche Bereicherung der Thüringer Hexen-Literatur ist.

 

Die Hexe von Weimar

Die Hexe von Weimar

Lesenswerter Artikel auf dem Blog Stiftung Klassik zum Prozess gegen Maria Kämmerer (Weimar 1680/81).

Der Fall diente dem Vielschreiber Julius Grosse (1828-1902) als Vorlage zu seinem heute vergessenen Roman „Das Bürgerweib von Weimar“ (1887).

Liebeszauber in Erfurt

Liebeszauber in Erfurt

Zacharias Hogel (1611-1676) gilt als einer der wichtigsten frühneuzeitlichen Chronisten Thüringens. Seine nie gedruckte Chronica von Thüringen und der Stadt Erffurth liegt jetzt in einer Online-Edition vor. Neben der Ansicht der Handschrift soll künftig auch eine Transkription geboten werden, die bislang für etwa die Hälfte der 892 Seiten vorliegt. Damit dürfte es bei Hogel noch einiges zu entdecken geben.

Literarische Bekanntschaft in Fachkreisen hat Zacharias Hogel erreicht, weil er einige Anekdoten über Dr. Faustus gesammelt hat, die sich als Erweiterung unbekannter Herkunft auch in Nachdrucken der Historia von D. Johann Fausten befinden. Nachdem man diese sechs Geschichten, von denen fünf in Erfurt spielen, auch bei Hogel entdeckt hatte, schien dies Hinweise zu geben, wie die frühe Überlieferung über Faust sich zunächst zu örtlichen kleinen Sammlungen kristallisiert haben könnte. Aus heutiger Sicht dürfte allerdings wahrscheinlicher sein, dass Hogel die Erfurt betreffenden Geschichten wohl schlicht aus einem gedruckten Faustbuch abschrieb, zumal die erfolgreiche Bearbeitung des Stoffes durch Nicolaus Pfitzer just zwei Jahre vor Hogels Tod in Nürnberg erschien. Dennoch hat es natürlich seine Charme, einen so prominenten Stoff nun vom heimischen Sessel aus im Manuskript einsehen zu können.

Fast um dieselbe Zeit, in der Hogel die Faustgeschichten angesiedelt hat, findet man bei ihm einen ungewöhnlichen Eintrag über einen Erfurter Zaubereiprozess von 1549, der mit sechs bis acht Beteiligten das erste größere Vorkommnis dieser Art in Thüringen darstellt.  Bislang hatte man von dieser Begebenheit nur eine knappe Kunde in einer gedruckten Chronik des 18. Jahrhunderts:

Johann Heinrich von Falckenstein: Civitatis Erffurtensis Historia Critica Et Diplomatica, Oder vollständige Alt-, Mittel- und Neue Historie von Erffurth. Worinnen Von dieser Stadt Ursprung, wahren Anwachs und Aufnahme, denen allda gehaltenen Synodis und Reichs-Tägen, zugestossenen Glücks- und Unglücks-Fällen gehandelt, Teil I, Erfurt 1739

„Auf dem Bock holen“ bezeichnet einen Liebeszauber, dem man in frühen Zaubereiprozessen in Thüringen, Sachsen und Franken recht oft begegnet. Er besteht darin, dass eine von dem ihrer überdrüssigen Liebhaber oder Ehemann verlassene Frau bei einer kundigen Geschlechtsgenossin Hilfe sucht. Das Kochen gewisser Kräuter bewirkt zusammen mit geheimen Zauberformeln, dass ein dämonischer Ziegenbock den ungetreuen Mann aufspürt, egal wie weit der durchgegangen sein mag. Der Bock nimmt den Kerl darauf gewaltsam Huckepack und bringt ihn im Flug zurück – natürlich auch gegen dessen Willen. Dem Vernehmen nach wussten die Entführungsopfer später meist kaum so recht, wie ihnen geschehen war.

Abbildung: Federzeichnung von Virgil Solis (1514-1562): Eine Hexe entführt einen jungen Mann auf einem Bock durch die Lüfte (Kunstmuseum Basel)

Wie schon aus der knappen Notiz Falckensteins oben ersichtlich, hatte man bei dem Erfurter Zaubereiprozess Gelegenheit, ein durch die Luft entführtes Opfer selbst zu Wort kommen zu lassen. Das macht es willkommen, dass Zacharias Hogel über den Vorgang noch erheblich mehr zu berichten weiß als sein späterer Nachfolger. Der Eintrag ist nicht nur seiner Ausführlichkeit wegen mehr als ungewöhnlich:

Hinter dem Berg aber in der Stadt geschachs, dz ein Pfaff, Ulrich Erckenberger, mit einer Köchin Hauß hielt. Dieselbe hatte einen von Augspurg, der sich bey ihm aufgehalten hatte, mit Gift vergeben, und wolte gern ihres Herren Diener Antonium zur Ehe haben, er mochte aber die Hure nicht: Drumb wolte sie sich an ihm rächen, dz es ihn den Kopf solte kosten. Nu war eine bekante Hexe in die Stadt, die man die Notarien hieß, die hatte ein Kind von Wachs gemacht, und wöllene Stecknadeln getauft, die sie, wenn man noch drey Tage hette gewartet, und sie nicht geholet, hie und dort in der Stadt ausgestreuet hette zu dem Endt, dz eine iede ledige Weibesperson, die eine Nadel aufgehoben hette, und in ihre Haare gebracht, zur Huren hette müßen werden, die aber einen Mann hette, von ihm lauffen hette sollen. Die ward aber von einem Schneider verraten, der ihr Vornehmen gesehen hatte. Als sie nun einkam, ließ jene Pfaffenhure Barbara durch Rath und Hülffe dieser Zäuberin gemeldeten Antonium von Goslar, da er damals war, in vier Stunden des Nachts auf einen Bock durch die Lufft gen Erffurt herführen. Da führte ihn der Bock oben zwischen den Thurnspitzen, auf dem Stift Mariae also hier genandt, dz er mit seinen Füßen an einem Knauffe anstieß, und fuhr drauf bey Pfaff Ulrichen also sanft zum finsteren Kellerloch hinein, das ihm war, wie wenn Himmel und Erde oben auf ihm lägen, und lief ihm aus allen seinen Fingern, und Zeen das Wasser heraus wie Milch. Wie er nun im Keller war, siehe das wischet Barbara auch hinein, erblicket ihn, läuft zu ihrem Herrn hinauf und spricht, Antonius der Bube were im Keller drunten, und hette im Sinne, ihn heimlich zu erwürgen. Herr Ulrich geht auch hinunter, siehet ihn da, und fragt ihn, wie er da hienein were kommen, und was er da machte. Antonius erzehlte ihm, wie es ihm gegangen sey. Der Pfaff berichtet es geschwinde dem Raht der ließ alsobald ers vernahm, den Sonnabend nach Ostern Knecht und Magd holen mitsamt der Notarien und noch zweyen anderen Huren, examinirte sie und ließ Antonium zwar wieder dahin ziehen, die Notarien aber mit Barbara am Freytage nach Cantate auf einem Karrn zur Stadt hinaus führen, und beide lebendig verbrennen, die andere Hur dergleichen, am Freytage nach Petri und Pauli, und die Dritte folgenden Tag auf ewig verweisen.

Aus Zacharias Hogels Chronik, zum Jahr 1549

Auf den ersten Blick mutet es fast märchenhaft an, was Zacharias Hogel hier berichtet – zumal er ein Jahrhundert nach dem Vorgang schreibt. Man sollte sich allerdings bewusst sein, dass es im Wesen eines jeden Zauberei- oder Hexenprozesses liegt, dass darin phantastische Erzählungen zu Tage treten. Meistens, oder fast immer, geschieht dies in Gestalt gewaltsam abgenötigter „Geständnisse“. Nicht selten hat man es allerdings auch mit Belastungs“zeugen“ zu tun, deren Aussagen etwas, sagen wir: verwunderlich sind. Wenn also ein Bericht dieser Art nicht sehr glaubwürdig erscheint, muss das nicht am Chronisten liegen…

Ich habe über das „Holen auf dem Bock“ einen längeren Aufsatz geschrieben, in dessen Mittelpunkt der Erfurter Zaubereiprozess von 1549 steht. Es ist mir geglückt, einen noch älteren Bericht zu auszugraben, geschrieben von einem Zeitgenossen der Ereignisse, der die Beteiligten selbst als Nachbar kannte. Dem kann man entnehmen, dass es diesen Antonius tatsächlich gegeben hat. Er war vermutlich ein Chorschüler im Hause des Kanonikers Ulrich Eckenberger und wird darum mal als Student, mal als Diener bezeichnet, was in dieser Position kein Widerspruch ist. Einige Zeit nachdem der junge Mann seinen Abschied genommen hatte, wurde er im Haus überraschend wieder angetroffen, nachdem man zuvor seine Kleider im Garten gefunden und darum das Haus durchsucht hatte, das an einem Flussarm lag. Der Vorgang sieht sehr nach einem Einbruch aus, und dieser Eindruck war damals zunächst nicht anders. Der Bursche jedoch präsentierte eine klasse Ausrede: Er wüsste gar nicht, wie er wieder in das Haus gekommen sei. Es müsste wohl die Köchin dahinter stecken. Tatsächlich kam er mit der Nummer durch, und es kam sogar noch verrückter: Das Ganze wiederholte sich noch einmal. Er wurde also ein zweites mal in dem Haus aufgegriffen, in dem er nichts mehr zu suchen hatte, und abermals gelang ihm ein spektakulärer Auftritt, der erfolgreich suggerierte, er sei nochmals selbst unschuldig „auf dem Bock“ herbeigezaubert worden. Als kurze Zeit später auch noch der Hausherr unter mutmaßlich unnatürlichen Umständen verstarb, war für den Erfurter Rat Schluss mit lustig: Die Köchin und eine vorgebliche Komplizin wurden Zauberei halber verbrannt, weitere Helfer zum Teil unter Folter verhört und danach der Stadt verwiesen. Es ist denkbar, dass solche Maßnahmen zu initiieren von vornherein eigentliches Motiv der sonderbaren Einbrüche war, denn der Fall hatte auch eine politische Dimension. Oder aber die Sache kippte, von einer zunächst abenteuerlichen Ausrede hin zu einer tödlichen Intrige.

Literaturhinweis:

Gabor Rychlak: Vom Holen auf dem Bock. Geschichte eines Liebeszaubers in der Frühneuzeit. Mitteilungen des Vereins für die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt 82, 2021, S. 179-227.

Böse Weiber, hier wie da…

Böse Weiber, hier wie da…

Als ich Ende letzten Jahres nach Quellen für frühe Zaubereiprozessen in Erfurt fahndete, wurde ich auf eine Sammelhandschrift aufmerksam, die eine Nota etzlicher boesen Weyber, Vnhulden vnnd Wetterzeyberyn Orgicht vnnd peinliche Bekenntnisse enthält. Dankenswerterweise war die Landesbibliothek Coburg so freundlich, auf meine Anfrage hin größere Teile aus dem kulturgeschichtlich insgesamt sehr potenten Codex MS Cas 34 zu digitalisieren. Die bösen Weiber entpuppten sich überraschend als nicht die von mir gesuchten und schon freudig erwarteten Erfurter Zauberinnen, sondern als noch ältere Hexen dubioser Herkunft. Die aufgeführten Namen –  man ist selbst als vor einem halben Jahrtausend verbrannte Hexe vor Google nicht mehr sicher – ermöglichten eine Identifizierung mit einem frühen Hexenprozess im fränkischen Mergentheim 1511 (1). Vermutlich handelt es sich um eine Abschrift von Urgichten, deren Originale sich noch im dortigen Stadtarchiv befinden (2). Insofern erscheint der Neuigkeitswert der Quelle begrenzt (ob der Umfang identisch ist, habe ich bislang nicht geprüft). Bemerkenswert ist aber das Alter, denn der Band wurde um 1550 in Erfurt kompiliert. Zu der Zeit waren die „modernen“, in der Schweiz und Süddeutschland entstandenen Erkenntnisse über das damals noch neuartige Hexenwesen in Thüringen noch nicht verbreitet – in dem Mergentheimer Prozess bildeten sie aber bereits den Hintergrund. Das Dokument ist daher ein Zeugnis dafür, wie das neue Hexenbild von Süden in den mitteldeutschen Raum einwanderte.

(1) Franz Diehm, Geschichte der Stadt Bad Mergentheim, Bad Mergentheim, 1963, S. 111. (2) Elmar Weiss, Die Hexenprozesse im Hochstift Würzburg, in: Peter Kolb/Ernst Günther Krenig (Hg.), Unterfränkische Geschichte, Bd. III: Vom Beginn des konfessionellen Zeitalters bis zum Ende des dreißigjährigen Krieges, Würzburg 1995, S. 328f.