Zeichen und Wunder
In den frühen Morgenstunden des 23. April 1563, es war ein Donnerstag, begab sich etwas sehr Sonderbares vor den Mauern der freien Reichsstadt Nürnberg. Ein Mann von etwa 30 Jahren kam mit auf den Rücken gefesselten Händen auf das Lauffer Tor zugeschritten, aus seinem rechten Ohr lief Blut. Als ihn die Leute dort bemerkten – und rasch wurden es immer mehr -, sank er auf seine Knie nieder und hob an zu predigen: Beten sollten sie, und Buße tun! Denn so wie er selbst – für jedermann sichtbar! – vom Satan mit Stricken gebunden worden sei, so würde es auch ihnen nur zu bald ergehen, wenn sie nicht umgehend von ihren Sünden abließen! Noch aber sei es Zeit, noch könnten sie umkehren und sich erretten! Sein Anblick solle ihnen ein Zeichen Gottes sein, wie sie dem Teufel unentrinnbar in die Fänge gerieten. Doch es war noch nicht zu spät!
Der Nürnberger Rat ließ den Fremden in ein Gasthaus bringen. Man befreite ihn von den Fesseln, die aus drei verschiedenen Schnüren und Bändern zusammengewirkt waren, wusch das Blut von ihm und beauftragte mehrere Wärter mit seiner Betreuung. Am Nachmittag kamen seinem Wunsch gemäß die obersten Prediger der Stadt zusammen mit Abgesandten des Rates zu ihm, und er berichtete: Sein Name sei Hans Vader, und er war ein Kuhhirte aus Mellingen, gelegen unweit von Weimar. Er hatte nie etwas anderes gewünscht als nur diesen Beruf redlich auszuüben, und er war verheiratet. Vor drei Jahren jedoch, es war am Johannistag gewesen, hatte ein Eseltreiber namens Nickel Göttel versucht, ihn zum Dienst für einen Junker anzuwerben. Er hatte kein Interesse an dem Angebot gehabt, worauf der Eseltreiber ihm zwei Stücken Brot vorgehalten habe, ein weißes und ein bläuliches. Hans Vader hatte dabei ein ungutes Gefühl verspürt, aber als Göttel ihm vorhielt, eine solche Gabe Gottes dürfe man nicht missachten, da hatte er es doch gegessen. Damit aber war er von diesem Augenblick an verzaubert gewesen, sodass er nun zwölf Jahre lang beständig vom Teufel mit Stricken gefesselt werden sollte. Wie Göttel später in seinem Verhör bekannt habe, war dem Brot sechserlei Blut beigemengt gewesen, nämlich von Schlange, Kröte, Igel, Fuchs und Wolf – plus dasjenige eines ungetauften Kindes, das Göttel vermutlich eigens zu diesem Zweck ermordet hatte.
Diese wundersamen Fesselungen, augenscheinlich vom Teufel selbst vollzogen, waren das Kernstück der Auftritte Hans Vaders, zusammen mit den furchterregenden Blutungen aus seinen Ohren. Wo immer er auftauchte, wollte man ihn gut christlich versorgen und dauerhaft aufnehmen. Vader aber konnte diese Akte der Nächstenliebe immer nur kurzzeitig annehmen, denn schon musste er in seiner Pein weiter und immer weiter von Ort zu Ort ziehen, als eine beständige lebende Warnung Gottes. Nach Leipzig, Wittenberg und Torgau war er so gekommen, auch nach Meißen, Eisleben und Freiberg, und einmal gar trug ihn ein starker Wind aus dem Mansfelder Land bis nach Halle, wo er mit silbernen Ketten gefesselt zu sich kam. Der Hirte führte Dokumente mit sich, die seine Erzählungen bestätigten.
In Nürnberg war man misstrauischer als an den vielen anderen Orten, an denen Hans Vader begeisterte Anhänger und christliche Fürsorge gefunden hatte. Man isolierte ihn, ließ ihn sogar nicht einmal zum Kirchbesuch und verwehrte ihm zugleich das Weiterziehen, wozu er bald einen immer stärkeren inneren Drang verspürte. Als sich ein Bürger meldete, der angab, sich in gleicher Weise selbst fesseln zu können, legte Vader ein schockierendes Geständnis ab: Auch er habe sich immer nur durch einen Trick alleine gebunden, und das Blut selbst aus einem Zahn gesogen und ins Ohr gegossen. Gelernt habe er dieses Kunststück von einem Kollegen – demselben, der in seinen Erzählungen nun als unheimlicher Zauberer auftreten musste. Die Bußaufrufe hätten einzig dazu gedient, glaubwürdiger zu erscheinen. Auf dieses Bekenntnis hin wurde der religiöse Schausteller von seiner Herberge ins Gefängnis verlegt und bereits am nächsten Tag, dem 9. Mai 1562, mit einer für die Zeitverhältnisse überraschend milden Strafe bedacht. Man ließ ihn eine halbe Stunde am Pranger stehen, während seine Taten vom Rathaus verlesen wurden. Anschließend wurde Hans Vader mit Ruten gestrichen und auf Lebenszeit aus Nürnberg verwiesen.
Am schmerzlichsten dürfte für Hans Vader gewesen sein, dass die Nürnberger seine Geschichte ausführlich im Druck bekannt machten, womit seine Masche überregional verbrannt war. Die große Zahl von erhaltenen Auflagen und Exemplaren deutet auf erhebliches Interesse hin, das er weit über den Raum seines Auftretens erzeugt hatte. Im fernen Esslingen berichtet der Chronist Dionysius Dreytwein nach einer solchen Flugschrift über Hans Vader, und der Düsseldorfer Arzt Johann Weyer griff in De praestigiis daemonum, seinem epochalen Werk gegen die Hexenprozesse, ausführlich auf ihn als mahnendes Exempel gegen gefährliche Leichtgläubigkeit zurück. Mit diesen publikumswirksamen Enttarnungen endete die erstaunliche Karriere des Hans Vader, eines einfachen Hirten aus Thüringen, den vermutlich in erster Linie die ihm zuteil werdenden milden Gaben zu diesem Schauspiel getrieben hatten.
Aus heutiger Sicht war Hans Vader nicht einfach nur ein ungewöhnlich dreister Trickbetrüger, sondern eine ausgesprochen zeittypische Erscheinung. Zum einen gab es um dieselbe Zeit herum auch andernorts Aufsehen um Verzückungen oder vermeintlich vom Teufel besessene Menschen. Der Zeitgeist sah darin nicht ein individuelles, wenn auch ungewöhnliches Schicksal, sondern eine Botschaft an die Allgemeinheit. Die Titel einiger fast zeitgleicher Flugschriften aus einem geographisch relativ begrenzten Raum geben einen Eindruck von dieser Entwicklung im Protestantismus in den Jahren um 1560:
Newe Zeyttung. Einer wunderbarlichen Historien von zweyen Meidlein, so in irer Kranckheyt seltzam ding reden. Nürnberg 1558
Eine grawsame erschreckliche und wunderbarliche Geschicht oder newe zeitung welche warhafftig geschehen ist in diesem 1559. Jhar zur Platten zwo meyl weges vom Joachimsthal. Erfurt 1559
Wunderpredigt: Dardurch ein arme einfeltige verachte Junckfraw one gefehr xvij. Jar alt alle Stende zur Busse vnd Besserung jres suendlichen lebens vermanet hat Geschehen zu Freibergk in Meissen den 17. Maij Anno 1560. Wittenberg 1560
Aber auch auf anderen Feldern häuften sich die Menetekel. Die Flugschriften der Zeit sind voll von ungewöhnlichen Phänomenen am Himmel, symbolhaft gedeuteten Missgeburten und Sensationen unterschiedlichster Art, denen der Gehalt einer göttlichen Warnung beigemessen wurde. Ähnlich wie heute heißes, nasses, trockenes oder kaltes Sommerwetter und jede Überschwemmung von unseren modernen Endzeitpropheten als Beweis des eigenen Glaubenssystems und letzter Aufruf zur Umkehr gedeutet wird, wurde damals auffällige Erscheinungen als ein Wunderzeichen mit Bedeutung aufgeladen. Nicht zufällig klagte Hans Vader über das skeptische Nürnberg, „das man seine wunderzeychen/ so Gott allen Menschen zum Exempel an jhm fürgestellt het“, nicht gebührend ernst nähme – und ordnete sich damit also sogar selbst als göttliche Botschaft ein – Bußprediger hatten auch damals schon eine wesenseigene Affinität zum Narzissmus.
Zwei Jahre vor dem Auftretens Hans Vaders, im April 1561, hatten eben in Nürnberg ungewöhnliche Erscheinungen am Himmel für Aufregung gesorgt, wovon ein Flugblatt zeugt. Der Schreiber ist dem Zeitgeist entsprechend überzeugt, Gott wolle die sündige Menschheit damit zur buß reitzen und locken, um sie so zu retten. Vergeblich! Denn so sein wir leyder so undanckbar/ das wir solche hohe zeychen und Wunderwerck Gottes verachten. Auf solchem Boden erwuchsen Karrieren wie die des vom Teufel umstrickten Hirten Hans Vader.
Wunderzeichen oder Prodigien waren schon im alten Rom bekannt. Man versteht darunter Kometen, Blut- oder Steinregen, Monstersichtungen und ähnliche Begebenheiten, die den Zorn der Götter anzeigten. Im christlichen Mittelalter spielten solche Mahnungszeichen eine geringere Rolle, um dann seit der Renaissance wieder stärker Beachtung zu finden. Im Protestantismus ist nach dem Tod Luthers und dem Schmalkaldischen Krieg ein steiler Aufschwung dieses Empfindens erkennbar. Neben theologischen Gründen – die Reformatoren selbst begriffen ihr Werk als endzeitlich – dürften Entwicklungen im sich sprunghaft entwickelnden Markt der Druckschriften eine Ursache sein, da Sensationsmeldungen entscheidend zur Ausbildung der ersten Zeitungen beitrugen. Neugier und Angst waren gleichermaßen absatzfördernd.
Im Jahre 1557 erschienen gleich drei voluminöse Sammlungen von Wunderzeichen in Buchform. Deren Herausgeber Conrad Lykostenes, Hiob Fincel und Caspar Goltwurm hatten bedeutungsvolle Ereignisse von der Vorzeit bis in die eigene Gegenwart mit stupendem Fleiß zusammengestellt. Dieses neue Genre und sein explosiver Erfolg zeigen die Hochkonjunktur, die diese Deutungsmuster in den Jahren des Auftretens von Hans Vader & Co fand. War ein Wunderzeichen zunächst ein natürliches Phänomen – oder auch nur ein Gerücht von einem solchen -, das vor dem Hintergrund apokalyptischer Weltsicht mit einer Bedeutung aufgeladen wurde, so boten gerade Erscheinungen von Verzückung und Besessenheit Rollen an, die die frühneuzeitliche Gesellschaft für Figuren bot, die in die Fußstapfen alttestamentarischer Propheten traten.











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