Leichte Kost

Leichte Kost

Nicht ganz neu, mir aber erst jetzt unter die Hände gekommen: Wahre Geschichten um Hexerei in Sachsen von Bernd Rüdiger, erschienen im Tauchaer Verlag 2019. Das schmale Buch erzählt exemplarisch von einigen Zaubereiprozessen auf dem Gebiet des heutigen Bundeslandes Sachsen.

Wer an einer Dönerbude seinen Hunger stillt, sollte dort kein pochiertes Zanderfilet an Champagner-Crème erwarten, während umgekehrt ein Gourmet-Tempel eher selten Pommes frites mit Ketchup servieren wird. Man sollte daher dieses kleine Büchlein nach dem bewerten, was es sein möchte: Kein packender Roman, keine tiefschürfende Abhandlung, keine fußnotengespickte Dissertation. Die offenbar erfolgreiche Reihe, deren Nr. 97 hier präsentiert wird, bietet historische Häppchen für Leser mit wenig Zeit und Geduld, ideal vielleicht als Mitbringsel oder auf dem Nachttisch. Der Reihentitel “Wahre Geschichten” ist klug gewählt, indem der Verzicht auf fiktionale Ausschmückung ebenso klar signalisiert wird wie der nichtsdestotrotz auf Unterhaltung zielende Anspruch.

Wer solchermaßen vom Elend des Hexenprozesses quasi dokumentarisch erzählen möchte, hat es nicht ganz einfach. Von vielen einschlägigen Vorkommnissen ist nicht mehr überliefert als eine Rechnung des Scharfrichters oder zwei dürre Zeilen eines mäßig interessierten Chronisten. Wo Urteile erhalten sind, umfassen die oft gerade mal eine Drittel Seite, und die noch selteneren Protokolle von Verhören sind Fragebögen, für deren Befüllung den Beschuldigten wenig individueller Spielraum blieb. Gerne wüsste man viel mehr über einzelne Menschen, die dem realen Alptraum der Vernichtung durch eine kafkaeske Justiz anheimfielen, wie auch über diejenigen im sozialen Umfeld: Nachbarn und Denunzianten, Amtsleute und Folterknechte, Geistliche und Richter. Die Quellen geben da meistens wenig her. Gleichwohl widersteht der Autor der naheliegenden Lösung, prominente Akteure in den Mittelpunkt zu stellen wie etwa den berühmt-berüchtigten sächsischen Juristen Benedikt Carpzov oder den gefeierten Aufklärer und Bekämpfer von Folter und Hexenprozess Christian Thomasius, der ein gebürtiger Leipziger war. Gesucht wird vielmehr eine Perspektive von unten, die sehr nah dran bleibt an dem, was die Archive zum Thema zu bieten haben. Folgerichtig hat der Autor auch einige Akten selbst studiert, was ungewöhnlich für ein Werk dieses Zuschnitts ist.

Gleichwohl begegnet man durchweg den üblichen Verdächtigen wie der alten Röderin aus Oederan, den Totengräbern von Großzschocher und der unvermeidlichen Sophia von Taubenheim. Überhaupt erinnern Konzeption und Auswahl stark an ältere Literatur von Karl von Weber (Aus vier Jahrhunderten, Leipzig 1857) bis Regina Röhner (Hexen müssen brennen, Chemnitz 2000). Überraschend ist einzig, dass die chronologisch geordneten Kapitel mit dem Jahr 1660 abschließen oder vielmehr abbrechen, sodass besonders dicht überlieferte Begebenheiten wie die Neitschütz-Affäre und die Annaberger Krankheit ausgespart bleiben – mit Blick auf das erzählerische Potenzial wird hier einiges verschenkt, und man kann sich des Eindrucks nicht ganz erwehren, dass der Autor schlicht die vorgegebene Seitenzahl erreicht oder keinen rechten Bock mehr hatte. Die prosaische Kürze, die lieblose Bebilderung und ein lustloses Literaturverzeichnis, dessen Ersteller offenbar gar nicht damit rechnete, dass man Interesse auf mehr zum Thema bekommen haben könnte, runden dieses Bild ab. Was Autor und Verlag hier bieten, ist weder sättigende Mahlzeit noch leckeres Häppchen, sondern eine Art Standard-Hamburger im Pappbrötchen – ohne Tomate, Zwiebel oder Salatblatt.

Tod in Berlin

Tod in Berlin

Nur äußerst selten finden sich unter den Opfern von Zaubereiprozessen Juden, was auf den ersten Blick überraschen mag. Einzelne Unterstellungen, die Pogrome auslösen oder rechtfertigen konnten – besonders Hostienfrevel und Gier nach Kinderblut – haben starke Ähnlichkeit mit den Vorstellungen vom Hexenwesen. Aber weil Juden vom Christentum nicht abfallen konnten, da man dazu überhaupt erst einmal Christ gewesen sein muss, stand diese zentrale Motiv der Zaubereivorstellungen für sie nicht zur Verfügung. Zudem war das auch nicht unbedingt erforderlich, wenn es darum ging, Justizmorden ein Mäntelchen der Legalität zu verschaffen. Um Juden zu verbrennen, mussten sie nicht als Zauberer überführt werden. Das macht die wenigen Ausnahmen, deren bekannteste der Berliner “Münzjude” Lippold (1530-1573) sein dürfte, besonders auffällig. Lippolds grausiges Schicksal ist eng verwoben mit der Geschichte der Juden im Brandenburg des 16. Jahrhunderts.

Berlin 1510: Ein Prozess wegen Hostienschändung

1510 kam es in Knoblauch im Havelland zu einem Diebstahl in der kleinen Kirche des heute nicht mehr bestehenden Dorfes. Der materielle Schaden war gering, jedoch fehlten zwei konsekrierte Hostien.
Der Kesselflicker Paul Fromm aus Bernau wurde einige Zeit später aufgegriffen, gestand den Einbruch und gab an, die Hostien verzehrt zu haben. Unter der Folter “korrigierte” er diese Aussage dahingehend, eine davon einem Juden namens Salomon in Spandau verkauft zu haben.

Salomon bestätigte dies und nannte weitere Glaubensbrüder als Komplizen. So kam ans Licht, dass auf einer jüdischen Hochzeitsfeier die Teilnehmer sich an einer gemeinsamen Hostienschändung erheitert hatten, was den Täterkreis sprunghaft anschwellen ließ. Diese Ausdehnung folgt dem Muster eines ähnlich gelagerter Prozesses, der wenige Jahre zuvor die Vertreibung der Juden aus Mecklenburg eingeleitet hatte.

Die Übeltäter bekannten obendrein, ähnlich wie die Hostie Jahre zuvor ein vierjähriges Kind von einem Christen gekauft zu haben. 10 Gulden wollten sie dem bärtigen Verkäufer dafür gegeben haben.

Aus Gier nach Christenblut hatten sie das Kind mit Nadeln zerstochen und ihm zuletzt die Kehle abgeschnitten, vermeldet die Flugschrift, der diese Illustrationen entnommen sind. Geschichten dieser Art waren nicht zuletzt durch ähnliche Publikationen zu früheren Pogromen und Vertreibungen in Wort und Bild verbreitet.

Am 6. Juli 1510 wurden in Berlin 39 Juden lebendig verbrannt, zwei weitere wegen ihrer Bereitschaft zur Taufe zur Enthauptung begnadigt. Auch Paul Fromm – rechts im Bild – endete auf dem Scheiterhaufen.

Die überlebenden Mitglieder der jüdischen Gemeinden Brandenburgs wurden aus dem Land gejagt. Niemand zweifelte an den absurden Untaten, die in dem Prozess unterstellt worden waren.

Noch vor seinem Tode hatte Paul Fromm seine Bezichtigung der Juden gegenüber seinem Beichtvater als erzwungen und unwahr bekannt. Der davon informierte Bischof gebot dem Priester jedoch, dieses Wissen für sich zu behalten. Viele Jahre später verschlug es den Priester nach Wittenberg, wo so der Justizmord als solcher bekannt wurde. Der Reformator Melanchthon hielt Kurfürst Joachim II. 1539 das Unrecht vor, dass sich unter dessen Vater ereignet hatte. Bald darauf erlaubte Joachim die neuerliche Ansiedlung von Juden in der Mark Brandenburg – wenn auch gewiss nicht vorrangig der Gerechtigkeit wegen

Kurfürst Joachim II. und das Geld

In Form von Steuern, Schutzgeldern und durch Kreditbeschaffung waren Juden eine finanzielle Stütze der Landesherren und halfen so, deren Macht auszubauen. Das machte sie unfreiwillig zu einem Spielball politischer Ränke. Pogrome und Judenvertreibungen waren oft nicht vorrangig religiös motiviert, sondern gestatteten es Schuldnern, sich ihrer Gläubiger kostengünstig zu entledigen. Zugleich aber ließen sich so christliche Herrscher als indirekte Nutznießer jüdischer Einkünfte wirtschaftlich schwächen und die innerchristliche Machtbalance in einem Territorium verschieben. Judenfeindschaft speiste sich nicht unbedingt aus irrationalen religiösen, sondern auch aus handfesten politischen Motiven. Der ältere Joachim war gewiss nicht begeistert, wegen eines zur Staatsaffäre ausgewachsenen Kirchendiebstahls seiner liebgewonnenen Judengelder beraubt zu werden. Und sein Sohn und Nachfolger wollte ebenso nicht nur erlittenes Unrecht ausgleichen, als er nach 1539 die Mark Brandenburg wieder für die neuerliche Ansiedlung solventer Juden öffnete.
Lucas Cranach der Jüngere malte um 1570 den Brandenburgischen Kurfürsten im vierten Jahrzehnt seiner Regierungszeit in der Montur eines heutigen Hiphoppers: Mit klobigen Goldketten um den stiernackigen Hals und Fingern voller Ringe fordert Joachim II. “Hector” (1505-1571) grimmigen Blickes Respekt ein. Sein Geldbedarf war auf Grund seines verschwenderischen Lebensstils immens. Eine standesgemäße, also personalintensive Hofhaltung, rauschende Feste, repräsentative Bauprojekte, anspruchsvolle Mätressen, dazu ein teures Faible für die Alchemie erforderten Mittel, die dem sprichwörtlich kargen märkischen Sand nicht ohne weiteres abzuringen waren. Woher also das Geld nehmen in einer Zeit, in der die Notenpresse noch nicht erfunden war? Brandenburg verfügte nicht über reiche Kaufleute wie die süddeutschen Reichsstädte.
Jüdische Finanzexperten wurden zur wichtigsten Finanzstütze Joachims, zu beiderseitigem Nutzen. Da war zunächst Michel von Derenburg (gest. 1549), der als Kreditvermittler eine Reihe deutscher und europäischer Herrscher stützte. Er war bekannt dafür, mit zwölfspänniger Kutsche und einer ganzen Entourage von Dienern selbst wie ein Fürst durch die Lande zu reisen und teilte in Sachen Goldbehang den Geschmack Joachims. Der hielt seine schützende Hand über ihn, als Michels Frau in Frankfurt an der Oder der Brunnenvergiftung beschuldigt wurde. Michel von Derenburg starb durch einen Treppensturz, kurz nachdem Joachim seine Freilassung nach einer Entführung erzwungen hatte. Die Flugschrift “Von Michel Juden Tode” deutete sein Ende als Ausdruck göttlicher Gerechtigkeit und machte Stimmung gegen die angeblich verjudete Mark Brandenburg. Trotz solcher Anfeindungen wurde Michel bezeichnenderweise nicht als Teufelsdiener oder Zauberer verdächtigt – anders als sein Nachfolger.

Lippolds Aufstieg

Lippold ben Chluchim stammte aus Prag und war als Kind mit seiner Familie nach Berlin gekommen. In den 1550er Jahren stieg er zur wichtigen Stütze Joachims auf. Er wurde Vorsteher der Juden Brandenburgs und damit verantwortlich für die Durchsetzung der diesen auferlegten Abgaben und Bürden. Joachim machte ihn darüber hinaus zu seinem Kämmerer, Hoffaktor und Münzmeister. Da der Geldwert an den Silbergehalt der Münzen gebunden war, ließ sich die Geldmenge – anders als heute – nur schwierig durch politische Entscheidungen vermehren. Die Juden Brandenburgs lieferten jährlich 3000 Mark Silber zur Münzprägung des Kurfürsten. Weil dies für Joachims Bedürfnisse nur ein Tropfen auf den heißen Stein war, wurde der Silbergehalt der Münzen herabgesetzt und der Gebrauch soliderer ausländischer Münzen wie auch ungemünzter Edelmetalle als Zahlungsmittel untersagt. Letztere mussten zu festgesetzten Kursen abgeliefert werden, ansonsten drohten Hausdurchsuchung und Beschlagnahmungen. Kaufleute waren durch den Zwang zur Verwendung der inländischen Weichwährung zum Devisentausch gezwungen, der ihre Margen auffraß. Naturgemäß schädigt diese Art von Wirtschaftspolitik ein Land zwangsläufig zu Gunsten des zeitlich befristeten Nutzens einer dünnen Machtelite.
Neben dem Geldwechsel und dem Metallhandel betrieb Lippold auch allerlei andere Geschäfte mit Adligen und Bürgern. Für Darlehen nahm er Zinssätze von jenseits der 50 Prozent und behielt Pfänder auch bei kurzfristigem Zahlungsverzug ein. Weil quasi der gesamte Hofstaat bei ihm in der Kreide stand, büßten so einflussreiche Familien liebgewonnene Juwelen ein. Nahm Lippold selbst Darlehen auf, ging es mit der Rückzahlung weniger kleinlich zu. Im äußeren Auftreten orientierte er sich an seinem Vorgänger. Kurzum: Der Mann hatte eine ausgeprägte Begabung, sich erbitterte Feinde zu schaffen und war darum auf Gedeih und Verderb Joachim II. ausgeliefert, der seinerseits seinen pompösen Lebensstil auf eine zerrüttende Wirtschafts- und Währungspolitik stützte.
Nachdem Joachim II. am 3. Januar 1571 überraschend verstorben war, erbte sein Sohn Johann Georg einen gigantischen Schuldenberg. Brandenburg stand ein Umbruch bevor, und es war absehbar, dass so manche bislang hochrangige Persönlichkeit würde froh sein können, wenn es nur an Rang und Pfründen ging. Bezüglich seiner Mätresse Anna Sydow hatte Joachim vorgesorgt und Johann Georg das Versprechen abgenommen, sie zu schonen. Wie nötig das war, zeigt ein Brief, den der mit ihm verwandte Herzog von Braunschweig kurz nach Joachims Tod an Johann Georg schrieb: Er äußert darin seine Sorge, das “bose bludtlestrige schendiche Weib” könne ungestraft davon kommen, wiewohl sie doch “nicht die geringste vrsach” am plötzlichen Absterben Joachims gewesen sei. Zum “guten abscheulichen Exempell” für andere solle der Erbe Sorge tragen, dass sie nicht ungestraft an Leib und Leben davon käme. Die “schöne Gießerin”, so ihr Spitzname, wurde bis an ihr Lebensende in der Zitadelle Spandau in Haft genommen. Der Sage nach wurde sie gar im von ihr zuvor bewohnten Jagdschloss Grunewald eingemauert und treibt deshalb seither als “Weiße Frau” in den Schlössern der Hohenzollern ihr Unwesen.

Lippolds Fall

Nach Joachims Tod ließ Johann Georg die Berliner Stadttore verriegeln, damit von den Günstlingen des Vaters keiner entkäme. Auch Lippold ben Chluchim wurde arretiert und wegen Veruntreuung und Unterschlagung angeklagt. Trotz akribischer Buchprüfungen konnte ihm jedoch kein straffähiges Fehlverhalten nachgewiesen werden. Als nach fast zwei Jahren in Hausarrest seine unvermeidbare Freilassung nur noch wenige Tage bevorstand, geschah etwas gar Seltsames: Durch die Türe seiner Wohnung drangen Geräusche eines heftigen Streit an das Ohr der dort noch immer postierten Wächter, und sie hörten Lippolds Eheliebste Mararete keifen: “Wenn der Kurfürst wüsste, was Du für ein Schelm bist und was Du mit Deinem Zauberbuch alles zuwege bringst, dann würdest Du schon längst kalt sein!.” Damit wurde die Entlassung natürlich hinfällig, und obendrein wurde besagtes Zauberbuch bei der fälligen Durchsuchung tatsächlich gefunden. Lippold bat darum, ihm die Folter zu ersparen, und legte ein umfängliches Geständnis ab. Nun ging es nicht mehr um Unterschlagung, sondern um Zauberei und Giftmord an Joachim II., dem Lippold wohl am Abend vor dessen Ableben einen Becher Wein gereicht hatte. Seinem Geständnis nach hatte er den Teufel beschworen, sich ihm ergeben und einigen namhaft genannten Menschen durch Zauberei mit teils tödlichen Folgen geschadet. Sein Zauberbuch hatte ihn gelehrt, wie er sich den Kurfürsten gewogen machen konnte. Dass er seinen Gönner schließlich vergiftet hatte, erklärte Lippold durch den Diebstahl einer schweren Goldkette, den er auf diese Weise vertuschen zu können gehofft hatte. Am 28. Januar 1573 wurde Lippold ben Chluchim in Berlin hingerichtet. Wie üblich, sollte er sein Geständnis zu Beginn öffentlich wiederholen. Stattdessen widerrief er, wurde darauf erneut in eine Folterkammer gezerrt und dahin gebracht, das Widerrufene nun öffentlich für wahr zu bekennen. Man band ihn auf einen Wagen, der auf dem Weg zur eigentlichen Hinrichtungsstätte immer wieder Pausen einlegte, um an diesen Stationen einen Zangenriss zu zelebrieren. Den schwersten Schwerverbrechern wurde diese Strafverschärfung auferlegt, bei der ein Henkersknecht dem Delinquenten mit einer glühenden Zange ein Stück Fleisch aus dem Körper riss oder Finger abzwickte. Üblich waren ein bis drei solcher Griffe, für vier oder gar fünf musste man schon ein Massenmörder sein oder mutwillig die Pest ausgestreut haben. Lippold jedoch sollte zehn solcher Zangenrisse erdulden, so hatte es das Urteil des Brandenburger Schöppenstuhls gefordert. Auf dem neuen Markt folgte die eigentliche Hinrichtung, die mit einer Räderung begann. Nachdem Arme und Beine zertrümmert waren, schnitt ihm der Scharfrichter die “Virilia” ab. Dann öffnete man seinen Brustraum, um seinen Herz herauszureißen und ihm “aufs Maul” zu schlagen. Seine Eingeweide wurden in einen Zuber geworfen und zusammen mit dem verhängnisvollen Zauberbuch verbrannt. Dabei kam eine große Maus aus dem Flammen hervorgelaufen, wodurch allerletzte etwaige Zweifel an Lippolds Schuld bei den zahlrechen Zuschauern erstickt wurden. Es folgte einen Vierteilung und das Aufhängen der Gliedmaßen an verschiedenen Galgen. Der Kopf des Juden wurde auf die Spitze des Georgentores gesteckt. Seine Glaubensgenossen, die bereits unmittelbar nach seiner Verhaftung zwei Jahre zuvor zur Zielscheibe von Ausschreitungen geworden waren, wurden abermals des Landes verwiesen. Alle Schuldscheine wurden konfisziert, die Schulden annulliert und eine Abzugsgebühr für die Vertreibung erhoben, wodurch sich die Triebkräfte der Vorgänge hinreichend enthüllen.

Hexen in Brandenburg

Hexen in Brandenburg

Vor einigen Wochen erschien von der Zeitschrift Die Mark Brandenburg ein Sonderheft zum Thema Hexen in Brandenburg. Auf 48 großzügig bebilderten Seiten werden 11 kurze, populär ausgerichtete Beiträge präsentiert. Das Spektrum reicht von Fallbeispielen von Zaubereiprozessen über Unheimliches bei Fontane bis hin zur Denkmalskultur. Während es somit an thematischer Breite nicht fehlt, bleibt der nicht völlig vom Thema unbeleckte Leser nach Lektüre des Heftes doch etwas ungesättigt zurück. Gründliche Recherche oder gar eigene Forschungen scheinen nur vereinzelt auf. Aber braucht es die für ein solches Heft? Dazu folgende Beispiele:

Alexander Vogel behauptet in seinem ambitioniert betitelten Beitrag Alles rechtens – der Brandenburger Schöppenstuhl während der Hexenverfolgung: “Zwischen 1550 und 1620 gab es jährlich etwa 30 Fälle, in denen über Hexen zu entscheiden war.” Das wären 2100 Hexenprozesse in einem rechten kurzen Zeitraum, der noch nicht einmal die aus anderen Regionen bekannten Verfolgungswellen um 1630 und 1660 mit umfasst, und ebensowenig diejenigen märkischen Prozesse, für die nicht in Brandenburg an der Havel, sondern in Frankfurt/Oder, Leipzig, Rostock oder Helmstedt Rechtsgutachten eingeholt wurden. Träfe diese damit nur einen Teil des Verfolgungsgeschehens abbildende, gleichwohl bereits enorme Zahl zu, stünde die Mark Brandenburg weit oben an der Spitze der verfolgungsintensivsten Regionen in ganz Europa. Davon jedoch ist bislang nichts bekannt.

Einen Beleg für seine Behauptung bleibt der Autor schuldig. Man findet dieselbe Angabe allerdings bereits bei Otto Tschirch, in dessen Geschichte der Chur- und Hauptstadt Brandenburg an der Havel von 1928 (Bd. II, S. 64) zu lesen ist: „Es wirkt erschütternd, wenn man die Verzeichnisse der märkischen Hexenprozesse durchsieht und feststellt, daß von 1530 bis 1730 fast 700 derartiger Prozesse verhandelt worden sind, und daß in der schlimmsten Zeit, 1550-1620, jährlich etwa 30 Fälle vorkamen.“ Dies hat nun allerdings den Schönheitsfehler, dass es Verzeichnisse märkischer Hexenprozesse nie gab und nicht gibt, dass diese Aussage schon mathematisch in sich nicht schlüssig ist, und dass selbst die niedrigere der beiden Angaben kaum mit dem heutigen Forschungsstand in Einklang zu bringen ist. Man sollte erwarten dürfen, dass ein fast 100 Jahre später erscheinender Artikel solche für das eigene Thema zentralen Unstimmigkeiten aufklärt statt sie naiv weiter zu verschleppen.

Ähnlich Dubioses finden wir in dem Beitrag Hexenprozesse in der Altmark von Hartmut Hegeler: „In Seehausen starben bis zum Anfang des 17. Jahrhunderts bis zu 200 Menschen den qualvollen Tod auf dem Scheiterhaufen“, fröstelt es den Autor, auf dessen eigener Webseite wir allerdings völlig andere Zahlen lesen: “In Seehausen (Altmark): 25 Verfahren mit 14 Hinrichtungen. 1 Frau starb an den Folgen der Folter. 1 Frau beging in der Haft Selbstmord.” Woher diese Verachtfachung der Opferzahlen, wenn auch mit dem vorsichtigen „bis zu“? Vermutlich stammt sie aus dem von Hegeler sehr zu Recht zur vertiefenden Lektüre empfohlenen Werk von Lieselott Enders: Die Altmark. Geschichte einer kurmärkischen Landschaft in der Frühneuzeit. Dort ist S. 1282 allerdings im Umfeld von Ausführungen über den Verfolgungs-Hotspot Seehausen die Rede von „mehr als 200 involvierten Personen“, was sich jedoch nicht auf den Ort alleine, sondern auf die ganze Region bezieht. Zudem ist “involviert” nicht gleich “qualvoll hingerichtet”. Auch so kann man Opferzahlen aufpumpen.

Es sind nicht alleine fragwürdige Zahlen, die in dem Heft auffallen, sondern auch Aussagen wie diese: „Gegen Ende des 15. Jahrhunderts setzte ein Wandel ein. Religiöse Vertreter sahen den Sieg des Christentums über den Teufel gefährdet und interpretierten die Segnungen und Heilkünste der „Praktikerinnen“ und Hebammen in einem neuen Licht.“ Dergleichen frauenbewegtes Aufwärmen von der seriösen Forschung einhellig abgelehnter Projektionen und Klischees sind kein Ausweis für ernsthafte Auseinandersetzung mit einem doch eigentlich spannenden Gegenstand. In dieser Hinsicht ist das Niveau der Beiträge recht unterschiedlich. Insgesamt ist das Sonderheft kurzweilig und spiegelt zum Teil interessante persönliche Zugänge zum facettenreichen Thema Hexen. Eine kritischere Redaktion und hier oder da etwas mehr wissenschaftliche Kompetenz hätte dem Ganzen aber doch gut getan.

Himmlers Hexenkartothek

Himmlers Hexenkartothek

In der Zeit des Nationalsozialismus beschäftigte sich ein wissenschaftliches Großprojekt im Auftrag der SS mit der Erforschung der Hexenverfolgung. Hintergrund war neben Heinrich Himmlers bizarrer Germanentümelei vermutlich die Absicht, Verbrechen der katholischen Kirche und/oder eine jüdische Verschwörung als Hintergrund der Jagd auf die deutsche Frau zu belegen. Gemessen am getriebenen Aufwand sind die Ergebnisse bescheiden. Man kam über eine amateurhafte Materialsammlung nur wenig hinaus.

Übrig geblieben sind vom “H-Sonderauftrag” rund 30.000 Karteikarten, die heute in Posen und in Kopie im Bundesarchiv in Berlin-Lichterfelde lagern. Der größte Teil davon sind Erfassungen einzelner Fälle, meist mit nur sehr vereinzelten Detailinformationen. Auch von Quellenrecherche kann oft kaum die Rede sein, jedoch standen den Bearbeitern zum Teil heute nicht mehr erhaltene Bestände zur Verfügung. Als Startpunkt oder zur Abrundung von Fall- oder Ortsrecherchen ist eine Einsichtnahme daher grundsätzlich sinnvoll und seit kurzem auch online möglich.

Themenheft Magie

Themenheft Magie

Als ich vor anderthalb Jahren die Macher der Sächsischen Heimatblätter fragte, ob nicht in einer der kommenden Ausgaben ein Artikel zum Thema Hexen Platz finden könnte, meinten die spontan: “Warum nicht gleich ein ganzes Heft?” – na gut… So entstand der Themenschwerpunkt “Magie und Aberglaube”. Ich selbst durfte zwei Artikel beisteuern: Einen über Nachzehrer – das sind die sächsischen Verwandten der Vampire -, wie man sich vor ihnen schützte, und welche tödlichen Verwirrungen daraus erwachsen konnten. Und eine Übersicht über Hexenprozesse in Sachsen und was dazu in den letzten Jahren geforscht und geschrieben wurde. Die weiteren Beiträge mit Themen von Alraunen bis Zauberei sind gleichfalls überwiegend volkskundlich getönt und mindestens ebenso lesenswert.

  • Karina Iwe: Dem Aberglauben und der Magie auf der Spur durch die Jahrtausende. Archäologischer Befund trifft Interpretation
  • Aletta Leipold: Die Merseburger Zaubersprüche
  • Ariane Bartkowski: Kurfürst August von Sachsen im Kontext der Alchemie des 16. Jahrhunderts
  • Gabor Rychlak: Teuflische Totengräber. Pestzauber und Nachzehrerabwehr in sächsischen Hexenprozessen
  • Gabriele Wagner: Totengeld, Scheren und Lieblingstasse. Der Friedhof von Breunsdorf und die Bedeutung seiner Grabbeigaben
  • Matthias Donath: Magie aus Reinsdorf. Geheimnisse einer Metallscheibe
  • Lars-Arne Dannenberg: Tod durch Sackung zwischen Recht und Aberglaube
  • Nadine Kulbe: Buchstabenzauber und Blutsegen. Der Volkskundler Adolf Spamer und sein Interesse an Heil und Heilung
  • Matthias Donath: Eine Alraune aus Jöhstadt
  • Gabor Rychlak: Zauberer, die nicht tanzen – Zum Stand der Hexenforschung in Sachsen

Sächsische Heimatblätter 2/2022 – Magie und Aberglaube