Im Sommer des Jahres 1582 wurden in Leipzig unfassbare Verbrechen entdeckt. Der Totengräber Christoph Müller hatte zusammen mit seinem Knecht schon mehr als zwanzig Menschen ermordet. Die grassierende Pest hatte ihm ermöglicht, Leichen zu berauben und verseuchte Häuser zu plündern. So sollte es immer weiter gehen – dank eines teuflischen Giftes, gebraut aus Kröten, Molchen und Schlangen.
Auch im nahegelegenen Großzschocher wurden zwei Totengräber als Pestverbreiter enttarnt. Sie gaben Müller als Quelle ihrer Giftpulver an, wodurch der überhaupt erst überführt werden konnte. Gleichzeitig allerdings stellte sich heraus, dass ihre eigenen Weiber Hexen waren und sich auf Zauberei verstanden. Von gekochten Kindsleichen ist die Rede, vom Besuch des Blocksberges, von Buhlschaft mit dem Teufel – ein fiebriger Alptraum, der für die Frauen auf dem Scheiterhaufen endete. Die Männer wurden mit glühendem Zangen gerissen und danach gerädert, ebenso Müller und sein Gehilfe. Ein bislang unbekannter Einblattdruck gewährt neue Einblicke in die Vorgänge.
Solche Blätter wurden gemeinhin von fliegenden Händlern auf Märkten, bei Kirchweihen und vermutlich auch in Kneipen an den Mann gebracht. Der Preis entsprach in etwa dem Stundenlohn eines Handwerkers, sodass also auch „kleine Leute“ als Käufer in Frage kamen. Dies ist auch an dem hohen Bildanteil erkennbar, der darauf abzielt, Analphabeten mit anzusprechen. Da man damals meistens in der Gruppe und immer laut las, darf man sich vorstellen, dass diese „Zeitungen“ wie Poster angepinnt wurden. Ein Lesekundiger unterrichtete dann seine Zuhörer über Einzelheiten. Auch die Verkäufer selbst werden – ähnlich wie Bänkelsänger – durch Vortrag Interessenten angelockt haben.
Wann und wo das Blatt gedruckt wurde, ist nicht ersichtlich. „Erstlich zu Magdeburg bei Friedrich Ortenberg“ zeigt an, dass es sich um einen Nachdruck einer selbst nicht erhaltenen Vorlage handelt. Indem von „diesem vergangenenen Sommer“ die Rede ist, erschließt sich als Zeit des Erscheinens der Herbst 1582. Damit ist denkbar, dass der Druck oder zumindest die vorhergehende Auflage sogar während der abgebildeten Hinrichtung am 23. September verkauft worden sein könnte, was zweifellos den Absatz stark befördert hätte. Noch plausibler wäre der Verkauf am 28. Oktober, als in Großzschocher die zweite Welle der Hinrichtungen erfolgte. Dafür könnte auch sprechen, dass die Abbildung ein Standardmotiv „von der Stange“ ist, wie der Vergleich mit diesem in der Bildkomposition fast identischen Flugblatt zeigt, das sich mit der Hinrichtung eines Vatermörders in Nürnberg 1589 beschäftigt.
Auf beiden Blättern sehen wir einen Delinquenten, der, auf dem Weg zu seiner Hinrichtung auf einem Leiterwagen fixiert, mit glühenden Zangen gerissen wird – die übliche Strafverschärfung bei besonders schweren Verbrechen. Ein Geistlicher wirkt auf ihn ein, damit er sich in sein Schicksal fügt, um so sein Seelenheil zu retten. Im rechten oberen Bildviertel folgt die Räderung, bei der Arm- und Beinknochen zertrümmert werden. Danach wird der verurteilte Missetäter auf dem Rad befestigt, das anschließend wie eine Tischplatte auf eine hohe Stange montiert wird. Schließlich überlässt man ihn sich selbst und den Galgenvögeln, die nicht ohne Grund geduldig um die Hinrichtungstätten („Rabenstein“) herumlungerten – gehängte und geräderte Verbrecher wurden der Abschreckung wegen nicht beerdigt. Während das Nürnberger Blatt im linken oberen Viertel auf die dortige Tat Bezug nimmt, ist das Leipziger Pendant frei vom lokalen Merkmalen. Einige Unstimmigkeiten wie die unlogische Position der Männer auf der Kutsche und die unsinnige Bauchlage des Geräderten mit auf dem Rücken gefesselten Händen lassen vermuten, dass eine noch ältere gemeinsame Vorlage aus dem Gedächtnis nachgeahmt wurde.
Der Einblattdruck halt sich als Unikat erhalten, weil ein zeitgenössischer Erfurter Chronist das Blatt seinem Manuskript als Illustration beifügte. In der Thüringer Metropole gingen der Pest wegen Gerüchte um über einen etwaig vergifteten Brunnen. Da von diesem Manuskript Abschriften angefertigt wurden, lässt sich der inzwischen stark beschädigte Text des Flugblattes rekonstruieren. Auf diese Weise erfahren wir, dass die Totengräber hauptsächlich in den Verdacht der Pestverbreitung gerieten, weil sie schwarze Hühner sowie ein Pulver verkauft hatten, beides als vorgeblichen Schutz vor der Seuche. Viele Käufer starben jedoch kurz nach der Einnahme. Ein reicher Leipziger Bürger, dessen Magd Christoph Müller 3 Groschen für sein Medikament bezahlt hatte, fiel tot um, noch bevor ihm sein Diener den zum Nachspülen empfohlenen Wein aus dem Keller holen konnte. Da Totengräber die Kleider von Pesttoten als Teil ihrer Entlohnung beanspruchten, kam Müller so zu einem besonders wertvollen Pelz. Das musste Argwohn erzeugen.
Ähnliche Formen nicht immer gänzlich freiwilliger Eigentumsübertragungen waren ein generelles branchentypisches Ärgernis. Vor diesem Hintergrund mag verwundern, dass man in Leipzig ausgerechnet den „Bestattern“ ein angebliches Medikament abgekauft hatte. Der scheinbare Widerspruch ist aber keiner. Da Totengräber einer besonders in Seuchenzeiten extrem gefährlichen Tätigkeit nachgingen, verfügten sie über selbst erfundene und als Berufsgeheimnis überlieferte Schutzmittel. Wie sonst sollte man einen Pestzug überleben, während man ständig in verseuchten Häusern ein- und ausging und sogar noch mit der als besonders infektiös geltenden Kleidung Verstorbener hantierte? Deshalb lag es für die Bevölkerung nahe, sie um Teilhabe an diesem Schutz anzusuchen – eine insgesamt brisante Konstellation.
Brisant war aber auch noch eine weitere Vorstellung im Zusammenhang mit der Pest. Im 16. Jahrhundert fürchtete man sich vor Nachzehrern. Nachzehrer sind die ostelbischen Verwandten der Vampire des Balkans. In beiden Fällen handelt es sich um Verstorbene, die im Tode keine Ruhe finden und deshalb Angehörige und Nachbarn zu sich nachholen. Die Vorstellung ist damit einerseits eine Deutung für das Phänomen der Pest, andererseits aber ermöglicht sie auch handfeste Abwehrmaßnahmen gegen eine sonst ungreifbare Bedrohung. Indem man Nachzehrer unschädlich machte, bekämpfte man die Pest. Es spricht einiges dafür, dass die Totengräber nicht nur in Leipzig Manipulationen an Leichen vornahmen, die, als Abwehrmagie gemeint, als Pestzauber missverstanden wurden. Wie beim Verkauf der Heilmittel wurde damit aus tatsächlicher Schutzmaßnahme vermeintliche Schadensstiftung. Besonders deutlich kann man diesen Mechanismus erkennen in einem Hexenprozess gegen ein Totengräber-Ehepaar in Lützen 1585 – .nur wenige Kilometer von Großzschocher entfernt, quasi einer Fortsetzung der in und bei Leipzig drei Jahre zuvor erfolgten Hinrichtungen. Dort wurden sogar Leichen exhumiert, um sich vom Wahrheitsgehalt erfolterter Geständnisse zu überzeugen – man fand dabei tatsächlich Indizien der daraufhin mit dem Scheiterhaufen geahndeten „Zauberei“.
Man fürchtete das Gesindel, man verachtete es, man verabscheute es. Aber ohne Totengräber konnte Leipzig so wenig wie jede andere Stadt auskommen. Das sind die Hintergründe jener sonderbaren Eidesformel, die die neue Pestordnung fürderhin allen Nachfolgern des unseligen Christoph Müller auferlegte:
Gabor Rychlak: Teuflische Totengräber. Pestzauber und Nachzehrerabwehr in sächsischen Hexenprozessen. Sächsische Heimatblätter 68 (2022), S. 102-112.